Mehr hilft mehr?
Ist Ihnen auch schon mal aufgefallen, dass manche Therapeuten eine ellenlange Liste an Therapieformen anbieten - ganz nach dem Motto “mehr hilft mehr”?
Vor kurzem erzählte mir eine ehemalige Teilnehmerin meiner Berufsausbildung zur Faszientherapeutin für Pferde, sie wolle nun noch eine Ausbildung zur Osteopathin abschliessen, um sich noch mehr Wissen anzueignen und eine noch bessere Therapeutin zu werden.
Ich halte das für einen großen Denkfehler - den sie aber mit vielerlei Menschen teilt. Auch in der Manualtherapie für Menschen gibt es viele Therapeuten, die alle paar Jahr eine Ausbildung hinzufügen und dann Stolz die lange Liste ihrer Fähigkeiten und Diplome auf ihrer Webseite präsentieren.
Geselle, Meister oder Künstler?
Da wir im Leben nur über eine begrenzte Zeit und Energie verfügen, müssen wir uns irgendwann entscheiden: Wollen wir in einer Sache richtig gut und kompetent werden, oder wollen wir von vielen Dinge ein bisschen Ahnung haben?
Die Ausbildung zum Faszientherapeuten verlassen die Teilnehmer sozusagen mit einem Gesellenbrief. Sie können wirksame Faszientechniken am Pferd durchführen und damit recht zuverlässig Erfolge erzielen, wenn sie das Wie und das Was beachten. Das bedeutet, sie müssen die Techniken auf die richtige Art durchführen (insbesondere müssen sie durch richtigen Körpereinsatz den richtigen Druck erzeugen) und sie müssen die richtigen Techniken in der richtigen Reihenfolge einsetzen (richtige Faszienarbeit folgt einer Strategie, die der Biomechanik und dem Nervensystem des Pferdes Rechnung trägt. “Überall mal was machen” ist nicht zielführend.).
Den Weg zum Gesellen habe ich so strukturiert, dass die Ausbildung innerhalb eines Kalenderjahres abgeschlossen werden kann.
Was aber unterscheidet den Gesellen vom Meister?
Der Meister kann in kürzerer Zeit mit geringerem Aufwand wesentlich grössere Behandlungserfolge erzielen.
Als Faszientherapeut kann man die Qualität seiner Berührung ein Berufsleben lang verfeinern und sich ständig weiterentwickeln.
Als ich 2007 als junger Faszientherapeut begann, dauerten meine Sitzungen 90 Minuten und länger und Menschen brauchten in der Regel zehn Sitzungen.
Heute dauern die Sitzungen eher 60 bis 75 Minuten und sind viel effektiver. Nicht nur fühlen sich die Menschen in jeder Sitzung aufrechter und schmerzfreier - wir kommen auch in der Regel mit acht Sitzungen völlig aus. Manchmal habe ich sogar bereits nach der dritten Einheit nichts mehr zu tun.
Als Therapeut immer besser zu werden ist nur möglich, wenn man ständig an der eigenen Bewegungsqualität arbeitet. Denn nur, wer sich selber immer aufrechter und geschmeidiger bewegt, kann dies auch bei anderen Menschen erreichen.
Ich warne dringend davor, diesen Aspekt zu vernachlässigen und selber irgendwann als alter buckliger “Heiler” die Welt beglücken zu wollen. Negativbeispiele dafür gibt es leider sowohl bei Mensch als auch Pferd zuhauf.
Weiterhin schärfen wir natürlich unseren Blick und verfeinern unsere Technik mit jeder einzelnen Faszienbehandlung. Und ich bin meinem Lehrer Frank Demann dankbar, der mir selber immer wieder zeigt, das es noch leichter und lockerer geht. Fortbildung ist wichtig.
Der Weg zum Meister ist zeitlich nicht auf den Tag genau definierbar, aber sieben bis zehn Jahre sollte man dafür schon mal ansetzen. Wichtig ist, in dieser Zeit nicht nur das Bekannte abzuspulen, sondern sich immer wieder aktiv zu fragen: “Wie kann ich vielleicht mit weniger Aufwand schneller zum Ziel kommen?”. Man muss sich ständig testen und hinterfragen.
Auch lässt sich die Berührungsqualität ein Berufsleben lang steigern. Ob ein Anfänger oder ein Profi mit dem Unterarm die Rückenfaszie dehnt sieht beim Zugucken sehr ähnlich aus. Aber für das Pferd oder den Menschen fühlt es sich doch ganz anders an - und natürlich erreicht der Meister viel mehr.
Wenn Eric Clapton eine einfache Melodie spielt, dann hört es sich halt auch anders an, als wenn ich das zum Beispiel tue. Der Ton macht die Musik - nicht nur das Spielen einzelner Noten.
Und noch ein kleiner Ausblick sei erlaubt: Der Geselle arbeitet mit der Hand, der Meister mit Hand und Hirn und der Künstler fügt dem noch das Herz hinzu.
Spezialisten sind glücklicher und erfolgreicher
Ich denke, dass wir im Leben glücklicher und auch erfolgreicher werden, wenn wir uns einer Sache richtig widmen anstatt mit eine Aufmerksamkeitsdefizit immer von einer Sache zur nächsten zu springen.
Natürlich kann ich für Pferde Physiotherapie, Chiropraktik, Akupunktur, Osteopathie, Massage, Lasertherapie, Hydrotherapie usw anbieten und das ganze dann noch mit Bachblüten abrunden.
Aber ganz ehrlich: Wenn Sie sich wirklich um Ihr Pferd sorgen, such Sie dann einen Spezialisten, oder jemanden, der alles so ein bisschen macht?
Wer sich im Scheidungskrieg befindet, sucht sich sicherlich auch einen Spezialisten für Familienrecht und keinen Feld, Wald und Wiesen Anwalt. Und auch eine OP am offenen Herzen lassen die meisten Menschen doch im Zweifelsfall ganz gerne vom einem darauf spezialisierten Chirurgen durchführen.
Spezialisten werden nicht nur besser bezahlt, ich bin mir sicher, sie sind auch glücklicher. Wer jedes Jahr ein neues Instrument ausprobiert, der wird nie so glücklich werden, wie der Pianist, der nach Jahrzehnte langer Arbeit ein fantastisches drittes Klavierkonzert von Rachmaninoff spielen kann.
Von allem ein bisschen, oder doch lieber eine Sache gut können?
Wer das spielen kann, tritt wahrscheinlich auch gut bezahlt in einer renommierten Konzerthalle auf, während der trommelnde Flötenspieler in der Fußgängerzone für seine Mühen nur wenige Groschen und noch weniger Aufmerksamkeit bekommt.
Der Balanceakt zwischen Aufgeschlosseneheit und Durchhaltevermögen
Natürlich brauchen wir alle eine Findungsphase und müssen verschiedene Dinge ausprobieren, bevor wir uns für einen Weg entscheiden. Wer nur auf den erstbesten Zug aufspringt und dann nie wieder über den Tellerrand schaut, der verpasst genauso viel wie jemand, der jedem Trend folgt und so nie zu einem eigenen Ziel kommt.
Deshalb wünsche ich mir für uns alle zum einen die Offenheit in neue Dinge einzutauchen, zum anderen aber auch das Durchhaltevermögen, es in einer Domäne zum Meister:in zu bringen. Und die Weisheit zu wissen, wann wir "unser Ding" gefunden haben. Denn erst dann beginnt die wahre Reise.