Die Idee der Faszienleitbahnen, (“anatomy trains”) wurde meines Wissens von Thomas Myers in seinem Buch “Anatomy Trains” (hier meine Rezension) geprägt. Wer sich für Faszien interessiert, der wird auch früher oder später mit den eingbänglichen Zeichnungen zur “Vorderleitbahn”, “Rück-, Seit- und Spiralleitbahn” konfrontiert.
Das Buch ist sehr schön geschrieben und illustriert und so hat sich die Annahme, Faszien folgten gewissen Leitbahnen, seitdem in vielen Fasziendisziplinen durchgesetzt. Genauer gesagt, wie so oft in diesem Bereich, wurde sie ungefragt, ungeprüft und unkritisch übernommen und abgeschrieben.
Folgerichtig dehnt jetzt das Faszien-Yoga die Faszienleitbahnen, die Faszienfitness trainiert die Faszienleitbahnen und die Faszientherapie - egal ob für Mensch oder Pferd - behandelt die Faszienleitbahnen.
Aber macht das Konzept auch Sinn?
Was auch jeder weiß und ganz einfach prüfen kann (einfach mal ein Hühnchen sezieren reicht 😉), ist, dass die Faszien sich als Netz durch den gesamten Körper ziehen und alle Knochen, Muskeln, Organe usw. miteinander verbinden. Von daher kann man dann auch die Existenz beliebiger Verbindungen oder Leitbahnen behaupten. Schneidet man den entsprechenden Muskelgruppen entlang, kann man dann auch eine “Superficial Back Line” herausschneiden und sagen: “Ha - da ist sie!”. Allerdings, da Faszien alles mit allem verbinden, kann man auch eine ganz beliebige andere Verbindung herausschneiden und nach sich benennen.
So habe ich nun in jahrelanger Forschung 🤪 bei Orangen (von links nach rechts) ebenfalls eine Spiral-, eine Vorderleitbahn und eine horizontale Leitbahn nachweisen und erfolgreich sezieren können. Jüngste dramatische Entwicklungen lassen auch die Existenz einer Donald Trump Leitbahn befürchten. 😅
Wer übrigens mal Faszien in Aktion gesehen hat, weiss, dass das echte Leben viel chaotischer ist und sich nicht so einfach in ein paar Bahnen beschrieben werden kann. Wer sich ernsthaft mit dem Thema Faszientherapie beschäftigt, dem sei das Buch “Faszien - Architektur des menschlichen Fasziengewebes” von Jean-Claude Guimberteau ans Herz gelegt. Herr Guimberteau hat nämlich erst mal genau hingeschaut, was das lebende Gewebe in Bewegung macht, bevor er zu ganz eigenen Schlüssen über die Funktion und das Funktionieren der Faszien gekommen ist.
Im Kaptiel “Gewebekontinuität” (!) gibt es dort interessanter Weise auch gleich einen Kommentar von Herrn Myers der, wenn auch ein wenig zwischen den Zeilen, erkennen lässt, das sein Modell der Leitbahnen doch etwas beschränkt ist.
In der Bewegungslehre jedenfalls ist auch die Lehre von den Leitbahnen nicht besonders hilfreich. Beuger- und Strecker, Muskeln, die uns gegen die Schwerkraft aufrichten und solche die uns klein machen, sind im Körper nicht in schönen geraden Leitbahnen angelegt.
Die Grundlagen der Bewegungslehre, ob es Kampfkunst, Reiten, Tanzen oder einfach nur im Alltag sei, liegen darin, dass der Schüler (wieder) lernen muss, dass Bewegung durch Loslassen entsteht. Nun sind aber die entsprechend anzusteuernden Muskelketten dummerweise 😉, auf einer Zick-Zack-Linie durch den Körper.
Und auch für die Faszientherapie ist eine Vorgehensweise entlang der Faszienleitbahnen ineffizient, weil sie gegen wichtige Prinzipien der Faszientherapie verstoßen. Eines, dieser Prinzipien, welches man auch als Laie einfach verstehen kann lautet:
Beuger vor Strecker!
Genauso, wie Sie vor dem Losfahren die Handbremse lösen, müssen Sie im Rahmen einer Faszienbehandlung den Beuger vor dem Strecker lösen. Das ist zwingend logisch: So können wir natürlich eine geschmeidige Rückenmuskulatur nur dann nutzen, wenn der gerade Bauchmuskel nicht angespannt ist und uns fixiert.
Erst wenn der angespannte Bauch (Beuger) sich löst, kann man die Rückenmuskulatur flexibler machen. (Übrigens ist es nicht so, dass es links falsch wäre und rechts richtig. Das Modell hat nur den Fehler "Angespannte-Vorderseite" durch den Fehler "Angespannte Vorderseite und noch verspanntere Rückseite" ersetzt 😉).
Wenn Ihnen das nicht sofort logisch erscheint, dann kreisen Sie mal entspannt Ihr Becken. Spannen Sie dabei den Bauch an, so wird die Bewegung sofort fest, steif und unelegant. Erst, wenn Sie den Bauch wirklich lösen können, können Sie die Feinarbeit in den anderen Muskeln verbessern und das Kreisen immer geschmeidiger werden lassen.
Bewegung ist viel zu komplex, als dass man sie auf ein paar Leitbahnen reduzieren könnte.
Also, Faszienleitbahnen sind eine nette Idee mit schönen Bildern, die uns in der Realität aber nicht weiterbringen. Gefragt sind stattdessen Gefühl für Bewegung und ein Blick dafür, wo der Klient (ob er nun auf zwei oder vier Beinen läuft) festhält.
Diesen Blick schärft man am besten, wenn man lernt, sich selber natürlich zu bewegen und selber einen gelöst aufrechten Körper hat. Abkürzungen gibt es leider keine. Und für uns Therapeuten gilt: Man kann nur weitergeben, was man selber hat. Nur wer sich körperlich ständig weiterentwickelt und beständig an seiner eigenen Bewegungsqualität arbeitet, der lebt diesen Beruf.